sulzer Papa Sulzer
Eine musikalische Legende aus Hohenems

Verfasser:
Hanno Loewy

Erschienen in „Vorarlberg Singt“ Nr. 4/2015
Salomon Sulzer wurde am 18. März 1804 in Hohenems als Sohn des Kaufmanns Josef Jakob Levi geboren. Seine Familie war 1744, nach der gewaltsamen Vertreibung der Juden aus dem nahen Sulz, nach Hohenems gezogen und nahm 1813 schließlich den Namen Sulzer an. Salomon sollte eigentlich Nachfolger seines Vaters werden, der ein Handelsgeschäft führte. Doch wie eine später oft kolportierte Legende besagt, wäre er 1811 beinahe im Hohenemser Emsbach ertrunken. Dass dieses Unglück glimpflich ausging, soll seine Familie zum Anlass für das Gelübde gewesen sein, Sulzer zum Kantor oder Rabbiner ausbilden zu lassen. Ob diese Legende nun stimmt oder nicht, als 1817 die Stelle des Kantors in der jüdischen Gemeinde Hohenems frei wurde, drängte die Familie auf eine Bewerbung. Das Argument, er sei noch zu jung – Sulzer war gerade 13 Jahre alt – wurde mit dem Hinweis entkräftet, dass er ja Bar Mitzwa sei und somit kein Kind mehr. Doch seine Bewerbung kam nicht zum Zug, zunächst sollte Sulzer eine gründliche Ausbildung erfahren.
So wurde er Schüler Rabbi Lippmans. 1818 reiste er mit seinem Lehrer durch Frankreich. Und nach der Rückkehr ging es für ein Jahr nach Karlsruhe zum weiteren Musikstudium. Nach diesen Studienaufenthalten erhielt der erst Sechzehnjährige schließlich 1820 tatsächlich die Kantorenstelle an der Hohenemser Synagoge. Neben seinen Amtspflichten gründete er einen Chor und ein kleines Orchester. In dieser Zeit unterstützte Sulzer einige seiner Musiker auch finanziell. Sein eigenes Kantorengehalt war karg, doch seine Familie war inzwischen zu bescheidenem Wohlstand gekommen.
Der Ruf seines musikalischen Könnens drang schon bald bis nach Wien. 1826 wurde Sulzer an den im Jahr zuvor neu errichteten Wiener Stadttempel als Kantor berufen, wo er gemeinsam mit Prediger Isaak Noah Mannheimer den „Wiener Ritus“ begründete – eine gemäßigte Art der Reform, die sowohl von Erneuerern als auch von Traditionalisten angenommen wurde. Auch in Wien setzte Sulzer sein Studium fort, unter anderem Komposition bei Ritter Ignaz von Seyfried. Ein Jahr später, 1827, heiratete Salomon Sulzer in Wien Fanni Hirschfeld aus Hohenems. Mit ihr hatte er 16 Kinder, von denen viele selbst musikalisch aktiv wurden: Maria (1828 – 1892), die Opernsängerin (unter anderem an der Scala) wurde, Julius (1830 – 1891), der als Komponist, Violinist und Dirigent erfolgreich war (u.a. als Operndirektor in Turin und Kapellmeister am Wiener Burgtheater), Henriette (1832 – 1907), die ebenfalls Opernsängerin wurde, u.a. in Mexiko, Sophie (1840 – 1885), die Sängerin und Gesangslehrerin in New York wurde, und Josef (1850 – 1926), der als Komponist und Solocellist der Wiener Philharmoniker selbst eine legendäre Gestalt des Wiener Musiklebens wurde – außerdem Hermine (* 1831), Hermann (1829 – 1831), starb schon im Alter von zwei Jahren, Klara (* 1834), Bertha (1835 – 36), Rosalie (1836 – 1896), Caroline (1837 – ?), Theodor (1839 – 1912), Rachel (1843 – 1929), Auguste (1844 -1936), Carl (1846 – 1894), und Franziska (1856 – ?), über deren weiteres Leben wir weniger wissen.
Salomon Sulzer galt bald auch außerhalb des Wiener Judentums als markante Persönlichkeit. Sein wunderbarer Bariton war weit über die Stadtgrenzen bekannt, und zu seinen begeisterten Bewunderern und Förderern zählten die Komponisten Franz Schubert, Franz Liszt, Giacomo Meyerbeer, Robert Schumann und Niccolo Paganini, die des öfteren den Wiener Stadttempel besuchten, um Sulzer zu hören. Franz Schubert vertonte für ihn den 92. Psalm, eine Komposition, die Sulzer später in sein Buch Schir Zion aufnahm. Auf eine mögliche Karriere als Konzertsänger verzichtete Sulzer 1839, da es in der jüdischen Gemeinde Unmut über seine weltlichen Aktivitäten gab. 1844 wurde er allerdings als Professor für Gesang an das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde berufen. Dieses Lehramt hatte er bis 1847 inne.
Das kompositorische Hauptwerk Sulzers, das auch seinen Ruf als Reformator des Synagogengesangs begründete, ist das in zwei Teilen erschienene „Schir Zion“ (Gesang Zions) mit zum überwiegenden Teil selbst komponierten Werken für den gottesdienstlichen Gebrauch. Die neuen Kompositionen wurden zum ersten Mal mit vierstimmiger Chorbegleitung geschrieben und beeinflussten den Gebetsstil in vielen Synagogen. Diese Kompositionen prägen den Synagogengesang in vielen Gemeinden bis in die heutige Zeit. Salomon Sulzer steht so gemeinsam mit Louis Lewandowski und Samuel Naumbourg für die Begründung des modernen Berufsstands des jüdischen Kantors im 19. Jahrhunderts, der sich nicht nur als musikalisch improvisierender Vorbeter, sondern als professionell ausgebildeter Sänger, Chorleiter und Komponist verstand. Sulzer war viele Jahre Vorsitzender des von ihm mitbegründeten Österreichich-ungarischen Kantorenverbandes und wurde als „Papa Sulzer“ verehrt.
Daneben war Sulzer als Komponist weltlicher Lieder tätig. Neben Revolutionsliedern vertonte er unter anderem Gedichte von Goethe. Als am 13. März 1848 auf dem Friedhof auf der Schmelz in Wien die Opfer des Militäreinsatzes gegen die Revolution bestattet wurden, nahm Salomon Sulzer gemeinsam mit einem katholischen Priester, einem protestantischen Pfarrer und dem Prediger der Wiener Synagoge, Isak Noa Mannheimer, an den Beerdigungsfeierlichkeiten teil. Ein damals unerhörtes Beispiel einer ökumenischen Totenfeier.
Als Salomon Sulzer 1866 sein Wiener Amtsjubiläum feierte, wurde er auch in New York bejubelt. So meldete die Zeitschrift „Die Neuzeit“ am 20. Januar 1866: „Was dem Kaiser Napoleon nicht gelingen will, die Sympathien Amerikas nämlich für sich zu gewinnen, das hat der König der Kantoren, der Ober Cantor der Wiener Gemeinde, oder, wie ihn ein hiesiges Journal nennt: ‚Professor Sulzer, Leading Chasan of Europe’, erreicht.“ Der Kantor war zur Kultfigur geworden, der von seinen Zeitgenossen nur noch in hymnischen Superlativen beschrieben wurde.
Im Alter äußerte Sulzer in einem Brief an einen Hohenemser Freund den Wunsch, seine „Hülle im heimatlichen Boden bei meinen Vätern ruhen und rasten zu lassen! Da wäre oben in der Mitte der Mauer ein passendes Plätzchen mit hübscher Aussicht, ein Wallfahrtsort für meine Nachkommen und vielleicht für so manchen Verehrer des einstigen Barden Jehovahs …“ Sein Wunsch, in Hohenems beerdigt zu werden, ging allerdings nicht in Erfüllung.
Sulzer starb am 17. Januar 1890 und wurde in Wien in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof begraben. Seine synagogale Musik umrahmt auch heute noch die Gottesdienste am Wiener Stadttempel, und im angelsächsischen Sprachraum gehört sie zum festen Repertoire zahlreicher Synagogen.
In einer pathetischen Todesanzeige auf ihn hieß es: „Von tiefem Schmerze erfüllt, geben die Unterzeichneten im eigenen Namen und im Namen aller Verwandten Nachricht von dem Ableben ihres geliebten Vaters, Schwiegervaters, Groß- und Urgroßvaters, des Herrn Salomon Sulzer, Oberkantor i.P. der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, Bürger ad honores der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Ritter des kaiserlich österreichischen Franz Josefs-Ordens, Offizier des ottomanischen Medschidje-Ordens, Besitzer der großen österreichischen goldenen, der großen und kleinen goldenen russischen Medaille und der Medaille vom Herzoge Max in Bayern für Kunst und Wissenschaft, emeritierter Professor des Konservatoriums in Wien, Ehrenmitglied der Reale Academia di S. Cecilia in Rom und anderer gelehrter Gesellschaften etc. etc., welcher Freitag, den 17. Jänner 1890, um 11 Uhr nachts, im 86. Lebensjahre sanft entschlafen ist …“
Der Verein des Jüdischen Museums Wien veröffentlichte schon zehn Jahre nach seinem Tod einen Aufruf „Sulzer-Reliquien“ für die Sammlung des Museums einzureichen.
Werkverzeichnis
Werkliste Salomon Sulzer